0 | BTh p. 23: Immanuel Kant [1724-1804]

»In der Tat ist es schlechterdings unmöglich, durch Erfah-
rung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen,
da die Maxime einer sonst pflichtmäßigen Handlung lediglich
auf moralischen Gründen und auf der Vorstellung seiner Pflicht
beruht habe. Denn es ist zwar bisweilen der Fall, daß wir bei
der schärfsten Selbstprüfung gar nichts antreffen, was außer
dem moralischen Grunde der Pflicht mächtig genug hätte sein
können, um zu dieser oder jener guten Handlung und so gro-
ßer Aufopferung zu bewegen, es kann aber daraus gar nicht
mit Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar kein ge-
heimer Antrieb der Selbstliebe unter der (bloßen) Vorspiege-
lung jener Idee die eigentliche bestimmende Ursache des Wil-
lens gewesen sei; dafür wir denn gerne uns mit einem uns
fälschlich angemaßten edleren Beweggrunde schmeicheln,
in der Tat aber selbst durch die angestrengteste Prüfung hin-
ter die geheimen Triebfedern niemals völlig kommen können,
weil, wenn vom moralischen Werte die Rede ist, es nicht auf
die Handlungen ankommt, die man sieht, sondern auf jene
inneren Prinzipien derselben, die man nicht sieht.«

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.
II. Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur
Metaphysik der Sitten. Hamburg (Meiner - PhB 41) S. 26
[Kants Gesammelte Schriften, 1. Abt. Band IV, S. 407]